Von morgens bis mitternachts

Von morgens bis mitternachts

Edition Filmmuseum 55

Georg Kaisers expressionistisches Theaterstück "Von morgens bis mitternachts" über den Kassierer einer Bank, der eines Tages aus seiner bürgerlichen Existenz auszubrechen versucht, wurde von Regisseur Karlheinz Martin in einen konsequent expressionistischen Stummfilm umgesetzt. Die Radikalität seiner Inszenierung verschreckte seinerzeit die Kinobranche, so dass der Film keinen Verleiher fand und nie in die deutschen Kinos gelangte. Lediglich in Japan lassen sich Aufführungen nachweisen, und in Japan hat sich auch die einzige Kopie des Films erhalten, die vom National Film Center umkopiert wurde. Das Filmmuseum München hat den Film restauriert, das SchlagEnsemble H/F/M und der Komponist Yati Durant haben für den Film zwei Musikbegleitungen erarbeitet, die die Gestaltungsmittel des Films aufgreifen und weiterführen.

Die Filme

Von morgens bis mitternachts - Deutschland 1921 - Regie: Karlheinz Martin - Drehbuch: Karlheinz Martin, Herbert Juttke, nach dem Drama von Georg Kaiser - Kamera: Carl Hoffmann - Darsteller: Ernst Deutsch, Erna Morena, Hans Heinrich von Twardowski, Eberhard Wrede, Roma Bahn, Frieda Richard - Produktion: Produktion, München - Premiere: 3.12.1923, Tokyo (Hongo-za) - Rekonstruktion: Filmmuseum München - Edition: Enno Patalas, Gerhard Ullmann, Klaus Volkmer - Digitale Bildbearbeitung: Christian Ketels, Christoph Michels, Wolfgang Woehl

Percussion Art auf den Internationalen Stummfilmtagen Bonn - Christian Roderburg und das SchlagEnsemble H/F/M" - Deutschland 2008 - Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt: Götz Lachwitz, Ulrich Naber, Simon Schmitz - Produktion: Abteilung Medienwissenschaft des Instituts für Kommunikationswissenschaft der Universität Bonn, Ursula von Keitz Erstveröffentlichung

Über Von morgens bis mitternachts

Kein Produkt der Großfilmbranche. Heute würde man sagen, ein Low-Budget-Projekt, initiiert vom Theatermann Karlheinz Martin. Zusammen mit Freund Juttke, dem Mitbesitzer einer kleinen Produktionsfirma, schrieb er das Drehbuch. Gedreht wurde in den Theaterpausen mit einem Team, das privat und beruflich miteinander zu tun hatte, das Martins neue Inszenierungsideen mittrug und sich vor allem zu seinen kunstrevolutionären Parolen bekannte, von der Kunst als Imperativ der Freiheit und dem Recht des Künstlers, den Dingen die Gewalt anzutun, deren er bedürfe. Fast alle, vom Bühnenmaler Neppach bis zu den Darstellern, arbeiteten zu dieser Zeit mit Martin auf Berliner Bühnen (oder kannten ihn von früherer Zusammenarbeit her). Freunde wirkten als Laiendarsteller mit, z.B. der Dichter Max Herrmann, der sich nach seiner Geburtsstadt Neisse nannte, und seine Frau Leni. Die Besetzungsliste erwähnt ihn nicht. Doch wie die zeitgenössischen Künstler von Meidner bis Dix, so porträtiert auch der Film den kleinen verwachsenen Mann mit dem übergroßen Kopf und den feinnervigen Händen. Eine deformierte Welt soll deformiert gezeigt werden. Zugleich bedient sich der Film der skurrilen Figur, um in eine an sich tragische Geschichte Komödiantisches und Kabarettistisches hineinzutragen. In einem Brief vom 26. Mai 1920 klagt Herrmann, dass er zur Zeit nicht so oft »raus in die Natur« komme wie im vergangenen Jahr. »Da war ich abends meist im Theater und dann, denken Sie, hab ich und Leni gefilmt. Martin, der mein Stück inszenierte, ist Filmregisseur für das verfilmte Von morgens bis mitternachts von Georg Kaiser, da haben Leni und ich mitgespielt, ich einen Lustgreis, Leni eine Zuschauerin beim 6-Tage-Rennen! War sehr amüsant... Aber wenn je die Neisser mich in diesem Film mal sehen und wiedererkennen sollten, kopfstehn werden sie.«

Die Neisser hatten keine Gelegenheit zum Kopfstehn: Der Film wirkte so schrill, fremd und unkonventionell, dass selbst das schockgewohnte Berliner Metropolenpublikum sich ihm verweigerte und er erst recht nicht in die oberschlesische Provinz gelangte. Statt dessen tauchte er zwischen 1920 und 1924 dort auf, wo über die große Frage »Was ist Film?« gestritten wurde. Martin bezog die Mittel seiner Inszenierung nicht nur aus einer Interpretation des Theaterstückes oder aus dem Widerspruch gegen das bürgerliche Repertoiretheater und der Erprobung neuer Spielstätten. Man kann den Film auch als eine Auseinandersetzung mit den zeit- und materialbedingten Beschränkungen des Mediums verstehen. Der Film war unräumlich, unfarbig und stumm. Martin versuchte diese »Mängel« nicht zu verbergen, er machte sie sichtbar. Sein Film wurde angekündigt als »der erste Film, der in den Urfarben Schwarz und Weiß abrollt«. Willy Haas schrieb 1922: »Hier ist nämlich versucht worden, das Bewegungsbild in die reine Antithese Schwarz-Weiß einzuzwängen - wahrscheinlich mit Hinblick auf die Unfarbigkeit des Filmes, die letzte Konsequenz dieser Unfarbigkeit ziehend. Also kunsttheoretisch, literaturtheoretisch eigentlich ganz richtig, ja zwingend. Aber diese Unfarbiekeit ist [...l ein ungeheures Manko des Filmes. Man kann und darf nicht Konsequenzen ziehen aus einem Manko. Das hieße einen Giotto mit einem Gauguin verwechseln, ein Kind mit einem alten Sonderling, der sich nach der Kindheit sehnt.« Deshalb nennt Haas Martins Film »auf die irrsinnigste Art filmfremd, filmfeindlich, schädlich«.

Der Film war offenbar Mitte 1922 in den Münchner Regina-Lichtspielen in einer Presse-Sondervorführung gezeigt worden. Josef Aubinger besprach ihn daraufhin in seiner Vierteljahresschrift »Der deutsche Film in Wort und Bild« in der Rubrik »Münchner Erstaufführungen«: »Die Stärke des Films beruht weniger in dessen Handlung, denn im ausgesprochen Bildhaften. Es ist hier gelungen, Bilder zu schaffen, die das Wort fast ganz verdrängen, und selbst da, wo Zwischentexte vorkommen, prägen sie sich durch ihre aparte schlagwortartige Gestaltung dem Gehirne ein, stören den Bildfluss nicht.« Ein japanischer Kritiker, der den Film im Dezember 1922 im Hongo-za-Kino in Tokyo gesehen hatte, veröffentlichte im Januar 1923 in »Kinema Jumpo« eine ausführliche Besprechung. »Dieser Film ist wohl einer der besten unter den expressionistischen Filmen, die bisher in Japan gezeigt wurden. [...] So entfaltet der Film das nackte menschliche Leben. In den bisherigen expressionistischen Filmen in Caligari ebenso wie in Genuine fand ich noch einen langweiligen Verlauf der Handlung, was bei diesem Film nicht mehr der Fall ist. Martins Inszenierung macht den Film lebendig, scharf gestochene Darstellung überall, es gibt keine wirkungslose Szene. [...] Das statische und das kinetische Moment bilden immer einen guten Kontrast und die einzelnen geschlossenen Szenen folgen fließend aufeinander und bilden einen Prozess, dessen schnelles Tempo den Film wirkungsvoll macht.«

Inge Degenhardt


DVD-Features

  • Von morgens bis mitternachts 1921, 73'
  • Improvisierte Musikbegleitung von SchlagEnsemble H/F/M
  • Komponierte Ensemblemusik von Yati Durant
  • Percussion Art auf den Internationalen Stummfilmtagen Bonn 2008, 8'
  • Booklet mit Texten von Fritz Göttler, Inge Degenhardt und Jürgen Kasten

Herausgeber: Filmmuseum München, Goethe-Institut München
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drössler

1. Auflage Juli 2010, 2. Auflage August 2013

Besprechungen

TV-Format Originalformat Tonformat Sprache Untertitel RegionalcodeFSK
4:3 (PAL)
1,33:1
Musikbegleitung
Dolby Digital 2.0
(Stereo)
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