Wundkanal

Wundkanal

Edition Filmmuseum 49

Ein alter Mann wird entführt und von seinen Kidnappern verhört. Dabei wird die Biografie eines Massenmörders freigelegt. Der heute Achtzigjährige war als einer der obersten SS-Führer für die Ermordung von Tausenden von Menschen in der Sowjetunion verantwortlich und "Erfinder" einer infamen Liquidationstechnik der Nazis: des fingierten Selbstmords politischer Gefangener. Thomas Harlan begnügt sich in Wundkanal nicht mit der Rekonstruktion der Geschichte dieses Schreibtischtäters, sondern zieht darüberhinaus Linien vom Nationalsozialismus bis zum Bau der Hochsicherheitstrakte im Stammheimer Gefängnis. Robert Kramer drehte seinen eigenen Film über Harlans provokatives Projekt: Notre Nazi dokumentiert die Dreharbeiten zu Wundkanal, einem sozialen Experiments, in dem Kinder von Opfern und Täter auf einen wirklichen Täter treffen und das über den fiktiven Prozess in Wundkanal hinausweist.

Die Filme

Wundkanal - Deutschland/Frankreich 1984 - Regie: Thomas Harlan - Drehbuch: Yvette Biro, Thomas Harlan - Kamera: Henri Alekan - Musik: Bob Wade - Mit: Alfred Filbert, Robert Kramer, Heike Geschonneck, Rolf Niffuag - Produktion: Quasar Film, Berlin / Reass Films, Paris - Premiere: 29.8.1984 (Mostra Internazionale del Cinema, Venedig)

Notre Nazi - Frankreich/Deutschland 1984 - Drehbuch, Regie, Kamera: Robert Kramer - Musik: Barre Phillips - Mit: Alfred Filbert, Thomas Harlan, Hertz Nativ, Ursula Langmann, Henri Alekan, Heike Geschonneck Produktion: Reass Films, Paris / Quasar Film, Berlin - Premiere: 29.8.1984 (Mostra Internazionale del Cinema, Venedig)

Über die Filme

Ein Bericht über die 41. Filmfestspiele von Venedig müsste versuchen, die Heiterkeit dieses Festivals zu schildern, diese Stimmung aus Unernst, Müßiggang und Schaulust, die heiße und milchige Sonne, die über der Lagune steht und die angeregte Menge der Journalisten, Kameraleute und Filmstars sanft zur Mäßigung nötigt, die abendlichen Filmvorführungen unter freiem Himmel, entweder draußen in der Arena am Lido oder drinnen auf dem Campo San Polo, wo sich jede Nacht ein gutes Tausend schwatzender und lachender Italiener zu jenem festlichen Ereignis versammelt, das Kino immer noch sein kann.

Aber es gab unter den mehr als hundert Filmen zwei, die nicht heiter waren, sondern finster und schrecklich, die Filme Wundkanal von Thomas Harlan und Unser Nazi von Robert Kramer. Wie ein böser Traum beherrschten sie das Festival und die Diskussionen. Sondervorführungen fanden statt, weil immer noch nicht alle die Filme gesehen hatten, und verstört, erregt, hasserfüllt kam man aus dem Kino, und in der Luft lag der alte, nie endende Streit über den nie endenden Faschismus. Es ging nicht mehr um so harmlose Dinge wie Kunst oder Kino, sondern um einen rechtskräftig verurteilten Massenmörder, um die filmische Hinrichtung dieses Mannes durch Thomas Harlan und um die Dokumentation dieser Hinrichtung durch Robert Kramer.

Da er die Schamlosigkeit besaß, in Harlans Film für eine Gage von 50 000 Mark als Hauptdarsteller aufzutreten, kann man den Namen des Mannes nennen: Es ist Dr. jur. Alfred Filbert, heute 79 Jahre alt. Er trat 1932 in die NSDAP und in die SS ein, promovierte 1933 über Konkursrecht, wurde SS-Obersturmbannführer, war seit 1935 stellvertretender Amtschef im Reichssicherheits-Hauptamt unter Heydrich, wurde 1941 Führer des Einsatzkommandos 9 und war mitverantwortlich für die Erschießung von mindestens 11 000 Juden in den besetzten Ostgebieten. Nach dem Krieg brachte er es bis zum Bankdirektor. Er wurde 1959 verhaftet und 1963 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. 1975 wurde er wegen fachärztlich festgestellter Haftunfähigkeit freigelassen.

Dieser Mann, ein deutsches Monstrum aus Pflichttreue und Ehrbarkeit, spielt bei Harlan nicht irgendeine Rolle, sondern sich selber. Er tritt auf als Zeuge seiner eigenen Vergangenheit, die leider auch die unsrige ist, und er ist ein typischer, ein jämmerlicher Zeuge: einer, der sich an nichts erinnern kann, der. vieles nicht gewußt hat, der nicht anders konnte als zu gehorchen, der Verantwortung von sich weist. Ein widerwärtiger Fall. Widerwärtig ist aber auch, was Harlan daraus macht. Er, der 55jährige Sohn des berühmten Nazifilmregisseurs Veit Harlan (Jud Süß, 1940), übt an Filbert stellvertretend Rache, treibt ihn in die Enge, unterzieht ihn einer psychischen Folter. Mit Hilfe von Scheinwerfern, Kameras und Monitoren, die das Verhör vielfach reproduzieren, stellt er eine terroristische Situation her. (...) Harlan (...) schlachtet den Fall Filbert aus für seine privaten Obsessionen. Unter "Wundkanal" verstehen Gerichtsmediziner den Weg, den eine in einen Körper eindringende Kugel nimmt. Der Film Wundkanal ist offenbar der Wundkanal in Thomas Harlans Leben, entstanden aus Verletzung, Hass und Wut. Der Hass aber verkehrt Harlans Absicht ins Gegenteil. Nach und nach nämlich erwacht im Zuschauer Mitleid mit diesem alten, sichtbar hinfälligen Mann, der die Folter der inquisitorischen, denunziatorischen und oft unsinnigen Fragen nicht mehr erträgt. Dies wird deutlich in Robert Kramers Film Unser Nazi. Kramer filmte die Dreharbeiten zu Wundkanal. Und bei ihm ist plötzlich nicht mehr Filbert der Angeklagte, sondern Harlan. Man sieht schreckliche Szenen: der alte Nazi, der, die Hände vor den Augen, aus dem Studio fliehen will und von den Filmleuten daran gehindert wird. Man sieht den schreienden Harlan, den weinenden Filbert, und man ist geneigt, jener italienischen Zeitung zuzustimmen, die schrieb: "Harlan, der Nazi bist Du!"

Das Thema ist heillos, die Filme sind es noch mehr. Man kann Harlans Film nur verstehen, wenn man Kramers Film gesehen hat, und hat man beide gesehen, dann versteht man nichts mehr. Denn Kramer, der so tut, als dokumentiere er nur, denunziert in Wahrheit den Denunziator Harlan. Es ist, als wäre jene Ermordung der 11.000 Juden, an der Filbert beteiligt war, ein Fluch, der noch jene verwirrt und blind macht, die sie verarbeiten wollen.

Ulrich Greiner, Die Zeit Nr. 38 vom 14. September 1984


Was noch fehlt auf DVD? Wundkanal von Thomas Harlan und Notre Nazi von Robert Kramer. Die provozierendsten Filme über die Auseinandersetzung mit den NS-Tätern und ihren Söhnen. Seit zwanzig Jahren warte ich darauf, dass die beiden Filme wieder zusammen gezeigt und diskutiert werden.

Andres Veiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 294 vom 16. Dezember 2004

DVD-Features (Doppel-DVD)

DVD 1

  • Wundkanal 1984, 107'
  • Der Film 'Wundkanal' 2007, 34'
  • 12seitiges Booklet mit Texten von Michael Farin und Thomas Harlan

DVD 2

  • Notre Nazi 1984, 116'
  • Fotos von den Dreharbeiten

Herausgeber: Filmmuseum München, Goethe-Institut München
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drössler

1. Auflage August 2009, 2. Auflage November 2010

Besprechungen

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